Caligari-Filmpreis (Berlinale)

Jedes Jahr seit 1986 wird auf der Berlinale ein stilistisch und thematisch innovativer Film aus dem Programm des Internationalen Forums des Jungen Films mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet.
Der von den Kommunalen Kinos gestiftete Preis* ist mit 4.000 Euro dotiert. Der Preisträger/die Preisträgerin erhält die Hälfte des Betrages, 2000 Euro werden für Werbemaßnahmen verwendet, um weitere Kinoaufführungen in Deutschland zu unterstützen, wenn möglich in Form einer Filmtournee durch kommunale Kinos.
* Co-Stifter:
2001-2017 die Filmzeitschrift Filmdienst | 2018 Europäische Filmphilharmonie | 2019 – 2022 filmdienst.de – Das Portal für Kino und Filmkultur


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Der 38.Caligari-Filmpreis (Berlinale Forum 2023) geht an:

De Facto

von Selma Doborac

Österreich / Deutschland 2023 – Deutsch – 130 Min.


© Selma Doborac

Jurybegründung (deutsch / engl.):
In einem minimalistisch-kühlen Setting treten zwei Charaktere auf. Ihre verbalen Ausführungen bilden eine drastische Rede, die sich an ein unsichtbar und stumm bleibendes Gegenüber richtet. Vom ersten ausgesprochenen Satz an entwickelt sich daraus ein Sog in die schwer aushaltbare Realität menschlicher Grausamkeit. Die beiden Männer waren maßgeblich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt und legen jetzt ungehemmt Rechenschaft über ihr Handeln und dessen Beweggründe ab. In die unheimliche Alltäglichkeit ihrer Formulierungen mischen sich immer wieder Begriffe, die einen Horizont von historischen Referenzen eröffnen. DE FACTO präsentiert nicht einfach zwei Täter, sondern bietet eine szenische Reflexion über Täterschaft und die sozialpsychologischen Dimensionen von Massengewalt. Die Dramatis personae sind keine Individuen sondern zu lesende Kunstfiguren, geformt aus einer Vielzahl verdichteter und ineinander verwebter Zeugnisse dokumentierter genozidaler Verbrechen. Mit unglaublicher Wucht macht der Film nur durch das gesprochene Wort und seine Verkörperung das Nachleben der Gewalt ebenso erfahrbar wie ihre bedrohliche Aktualität. Selma Doborac ist ein außergewöhnlicher und hochintensiver Film gelungen, der wie kaum ein anderer zuvor zerstörerische (Gruppen-)Dynamiken und das Inhumane im Menschen auch philosophisch zu denken gibt. DE FACTO interveniert in unsere Tendenz, die unangenehme aber notwenige Auseinandersetzung mit Massengewalt zu Verdrängen. Er ermöglicht eine neue Form künstlerischer Zeugenschaft, die auch unseren Glauben an Gerechtigkeit herausfordert.
 
Two characters appear in a minimalist, chilly setting. Their verbal remarks form a drastic speech directed at a counterpart who remains invisible and mute. From the first uttered sentence, a maelstrom develops into the hard-to-bear reality of human cruelty. The two men were significantly involved in crimes against humanity and now give an uninhibited account of their actions and their motives. The uncanny ordinariness of their formulations is repeatedly intermingled with terms that open up a horizon of historical references. DE FACTO does not simply present two perpetrators, but offers a scenic reflection on perpetration and the socio-psychological dimensions of mass violence. The dramatis personae are not individuals but art figures to be read, formed from a multitude of condensed and interwoven testimonies of documented genocidal crimes. With incredible force, the film makes the afterlife of violence as tangible as its threatening topicality only through the spoken word and its embodiment. Selma Doborac has succeeded in making an extraordinary and highly intense film that, like hardly any other before it, makes us think philosophically about destructive (group) dynamics and the inhuman in human beings. DE FACTO intervenes in our tendency to repress the unpleasant but necessary confrontation with mass violence. It enables a new form of artistic witnessing that also challenges our belief in justice.

Die Jury bestand in diesem Jahr aus Borjana Gaković (Sinema Transtopia Berlin), Janna Schmidt (CITY 46 / Kommunalkino Bremen e.V.) und Silvia Bahl (filmdienst.de, Medienpartner). Gesichtet wurden alle 28 Filme des diesjährigen Forums (ohne Special und Expanded). Die Preisverleihung mit Empfang und Vorführung des prämierten Films fand im Rahmen der 73. Berlinale am 24.2.2023 im silent green Kulturquartier statt.

Filmseite der Berlinale
 
Artikel unseres Medienpartners Filmdienst:
Überblicksseite
Preismeldung
Essay von Silvia Bahl

Sixpackfilm (Weltvertrieb): Katalogeintrag


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Liste der Preisträger:

Jahr Titel Deutscher Verleihtitel Deutscher Verleih Regie Land
2023 De Facto Selma Doborac Österreich / Deutschland
2022 Geographies of Solitude Arsenal-Institut für Film und Videokunst Berlin Jacquelyn Mills Kanada
2021 A River Runs, Turns, Erases, Replaces Arsenal-Institut Shengze Zhu USA
2020 Victoria Arsenal-Institut Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer und Isabelle Tollenaere Belgien
2019 Heimat ist ein Raum aus Zeit GMFilms Thomas Heise Deutschland
2018 La Casa Lobo Arsenal-Institut Cristóbal León, Joaquín Cociña Chile
2017 El mar la mar Arsenal-Institut Joshua Bonnetta, J.P.Sniadecki USA
2016 Akher ayam el madina (In the Last Days of the City) Wolf Kino / Arsenal-Institut Tamer El Said Ägypten u.a.
2015 Balikbayan #1 Memories of Overdevelopment Redux III Arsenal-Institut Kidlat Tahimik Philippinen
2014 Das Grosse Museum Realfiction Johannes Holzhausen Österreich
2013 Hélio Oiticica Arsenal-Institut Cesar Oiticica Filho Brasilien
2012 Tepenin Ardı (Beyond the Hill) Arsenal-Institut Emin Alper Türkei / Griechenland
2011 The Ballad of Genesis and Lady Jaye Arsenal-Institut (Neue Pegasos) Marie Losier USA u.a.
2010 La bocca del lupo Arsenal-Institut Pietro Marcello Italien
2009 Ai No Mukidashi Love Exposure Rapid Eye Movies Sion Sono Japan
2008 Tirador Brillante Mendoza Philippinen
2007 Kurz davor ist es passiert Kurz davor ist es passiert Filmgalerie 451 Anja Salomonowitz Österreich
2006 37 Uses for a Dead Sheep 37 Arten ein Schaf zu nutzen Piffl Medien Ben Hopkins Großbritannien
2005 Niu Pi Oxhide Liu Jia Yin China
2004 Dopo Mezzanotte Die zweite Hälfte der Nacht Kairos Filmverleih Davide Ferrario Italien
2003 Salt Salt Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek Bradley Rust Gray Island/USA
2002 Un Día de Suerte Ein Glückstag Kairos Filmverleih Sandra Gugliotta Argentinien
2001 Crónica de un desayuno Chronik eines Frühstücks Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek Benjamin Cann Mexiko
2000 I Earini synaxis ton agrofylakon Das Frühlingstreffen der Feldhüter Kairos Filmverleih Dimos Avdeliodis Griechenland
1999 Viehjud Levi Viehjud Levi Arsenal Filmverleih Didi Danquart Deutschland
1998 Kasaba Die Kleinstadt Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek Nuri Bilge Ceylan Türkei
1997 Nobody’s Business Nobody’s Business Ventura Film Alan Berliner USA
1996 Charms Zwischenfälle Charms Zwischenfälle Ventura Film Michael Kreihsl Österreich
1995* Madagascar Madagascar Fernando Pérez Cuba
1995* Complaints of a Dutiful Daughter Klagen einer pflichtbewußten Tochter Deborah Hoffman USA
*1995 zwei Preisträger
1994 Sátántangó Sátántangó Béla Tarr Ungarn
1993 Anlian taohua yuan Das Land der Pfirsichblüte Stan Lai Taiwan
1992 Swoon Swoon Tom Kalin USA
1991 All the Vermeers in New York All‘ die Vermeers in New York Jon Jost USA
1990 Untamagiru Untamagiru Go Takamine Japan
1989 Sama Die Spur Néjia Ben Mabrouk Tunesien
1988 Nagunenun gilesodo schizi annunda Der Mann mit den drei Särgen Lee Chang-Ho Korea
1987 Yuki yukite shingun Vorwärts, Armee Gottes! Kazuo Hara Japan
1986 Shoah Shoah Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek Claude Lanzmann Frankreich