Seit 1986 wird im Rahmen der Berlinale ein stilistisch und thematisch innovativer Film aus dem Programm des Berlinale Forum mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet. 2024 findet am 23. Februar die 39. Preisverleihung statt.
Der von den Kommunalen Kinos und dem Kooperationspartner filmfriend ausgelobte Preis ist mit 4.000 Euro dotiert. Der Preisträger/die Preisträgerin erhält die Hälfte des Betrages, 2000 Euro werden für Werbemaßnahmen verwendet, um weitere Kinoaufführungen in Deutschland zu unterstützen, wenn möglich in Form einer Filmtournee durch kommunale Kinos. Medienpartner des Preises ist das Portal filmdienst.de.
Co-Stifter waren bislang: 2001 – 2017 Filmzeitschrift filmdienst | 2018 Europäische Filmphilharmonie |
2019 – 2022 filmdienst.de – Das Portal für Kino und Filmkultur.
Die Caligari-Jury 2024
Maximilian Grenz
studiert Filmwissenschaft an der FU Berlin, freier Autor bei Jugend ohne Film. Erfahrungen bei der Kolleg-Forschungsgruppe Cinepoetics, Woche der Kritik und Komplizen Film. Seit 2023 beim Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums.
Christiane Schleindl
Leiterin des Filmhaus Nürnberg, langjähriges Mitglied des BkF-Vorstandes.
Andreas Vogel
studierter Politologe und Diplom Pädagoge. Seit 2009 Alleingesellschafter der filmwerte GmbH in Potsdam, die u.A. die Streamingangebote www.filmfriend.de, ein Filmportal für Bibliotheken in mittlerweile sechs europäischen Ländern, und cinemalovers realisiert.
Preisträger 2024
Shahid
von Narges Kalhor
Buch: Narges Kalhor, Aydin Alinejad
Kamera: Felix Pflieger
Musik: Marja Burchard
Mit: Baharak Abdolifard, Nima Nazarinia u.A.
DE 2024, 84 Min.
Jurybegründung
Die Entscheidung, welcher Film den Caligari-Filmpreis in diesem Jahr gewinnen soll, ist unserer Jury sowohl schwer als auch leicht gefallen. Sie war schwierig, weil es unter den insgesamt dreißig Filmen des Programms des Forums etliche gab, die einen Preis verdient, und ihn unter anderen Bedingungen auch erhalten hätten. Einfach war sie hingegen, weil wir uns sehr schnell einig wurden, welcher dieser Filme uns am Ende am meisten beeindruckt hat: SHAHID von Narges Kalhor.
Das Leben von Narges Shahid Kalhor dreht sich im Kreis. Eigentlich möchte sie nur ihren ersten Nachnamen Shahid loswerden, der im Iran „Märtyrer“ bedeutet und so auf eine Geschichte patriarchaler Herrschaft und Gewalt verweist. Doch ihr Weg wird in der neuen Heimat von der Bürokratie der deutschen Behörde blockiert, während sie hinter sich buchstäblich vom langen Schatten ihrer Ahnen verfolgt wird.
So wie Narges Kalhor ihre Identität zwischen verschiedenen Ländern, Kulturen und Sprachen finden muss, so wechselt auch der Film ständig virtuos die eigenen Register: zwischen Fiktion und Dokumentation; Tragik und Komik; Genrekino und Experimentalfilm; Zeitlupe und Zeitraffer; Film, Film im Film und Behind the Scenes. Konsequent hinterfragt er die eigene Form, immer wieder wird die Fiktion brüchig und neue doppelte Böden tun sich auf. Die Kreisbewegung erweist sich als Spirale in die Untiefen der eigenen Biografie und der kollektiven Vergangenheit.
SHAHID ist ein komplexes, vielstimmiges Werk und trägt doch unverkennbar die Handschrift seiner Regisseurin. Narges Kalhor findet einen Ausdruck für ihre persönlichen Erfahrungen gerade in der kreativen Zusammenarbeit in den verschiedensten Bereichen:
sei es im unvorhersehbaren wie geschickt konstruierten Drehbuch mit Co-Autor Aydin Alinejad, der präzisen und einfallsreichen Kameraarbeit von Felix Pflieger, den bewegenden Kompositionen von Marja Burchard, den fließenden Szenenübergängen im Schnitt mit Frank Müller, oder in der Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle zusammen mit ihrem Alter Ego, gespielt von Baharak Abdolifard.
Unsere dreiköpfige Jury hat den Film bereits auf fünf verschiedenen Vorführungen dieser Berlinale gesehen und jedes Mal wurde laut und herzhaft im Kino gelacht. Obwohl der Film oft von schweren und schmerzhaften Erfahrungen erzählt, spricht er von diesen Themen mit einer großen Leichtigkeit. Das hat uns beeindruckt.
SHAHID ist ein Befreiungsschlag aus den Zwängen von Konvention und Tradition, ein Film, nach dem alles möglich zu sein scheint. Wir sind sehr gespannt, welche weiteren Wege Narges Kalhor gehen wird und beglückwünschen sie und ihr ganzes Team zu diesem Werk.
► Jurybegründung in Englisch
The decision which film should win the Caligari Film Prize this year was both difficult and easy for our jury. It was difficult because, among the thirty films in the Forum’s program, there were quite a few that deserved a prize and would have received one under different conditions. However, it was easy because we quickly agreed which of these films impressed us the most in the end: SHAHID by Narges Kalhor.
Narges Shahid Kalhor’s life goes in circles. Actually, she just wants to get rid of her first surname, Shahid, which means “martyr” in Iran and thus refers to a history of patriarchal rule and violence. But her path in her new home is blocked by the bureaucracy of the German authorities, while she is literally followed by the long shadow of her ancestors. Just as Narges Kalhor has to find her identity between different countries, cultures and languages, the film constantly switches its own registers with virtuosity: between fiction and documentation; tragedy and comedy; genre cinema and experimental film; slow motion and fast motion; Film, film within the film and behind the scenes. He consistently questions his own form; again and again the fiction becomes fragile and new false bottoms open up. The circular movement turns out to be a spiral into the depths of one’s own biography and the collective past.
SHAHID is a complex, multi-voiced work and yet unmistakably bears the signature of its director. Narges Kalhor finds expression for her personal experiences in creative collaboration in a wide variety of areas: be it in the unpredictable and cleverly constructed script with co-author Aydin Alinejad, the precise and imaginative camera work by Felix Pflieger, the moving compositions by Marja Burchard, the flowing scene transitions in the editing with Frank Müller, or in the examination of her own role together with her alter ego, played by Baharak Abdolifard.
Our three-person jury has already seen the film at five different screenings at this Berlinale and each time there was laughter loudly and heartily in the cinema. Although the film often tells of difficult and painful experiences, it speaks about these topics with great lightness. That impressed us.
SHAHID is a liberation from the constraints of convention and tradition, a film after which everything seems possible. We are very excited to see what future paths Narges Kalhor will take and congratulate her and her entire team on this work.
► Zur Person Narges Kalhor
Geboren 1984 in Teheran, Iran. Sie studierte Filmregie und visuelle Kommunikation, beantragte 2009 bei einem Festivalbesuch in Deutschland politisches Asyl. Der Abschlussfilm ihres Filmstudiums In the Name of Scheherazade wurde beim Festival Visions du Réel in Nyon uraufgeführt und mit dem Preis des Goethe-Instituts für den besten Dokumentarfilm bei DOK Leipzig ausgezeichnet. © Berlinale
Weitere Infos in unserer Pressemitteilung
Liste der Preisträger:
Jahr | Titel | Deutscher Verleihtitel | Deutscher Verleih | Regie | Land |
2023 | De Facto | Selma Doborac | Österreich / Deutschland | ||
2022 | Geographies of Solitude | Arsenal-Institut für Film und Videokunst Berlin | Jacquelyn Mills | Kanada | |
2021 | A River Runs, Turns, Erases, Replaces | Arsenal-Institut | Shengze Zhu | USA | |
2020 | Victoria | Arsenal-Institut | Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer und Isabelle Tollenaere | Belgien | |
2019 | Heimat ist ein Raum aus Zeit | GMFilms | Thomas Heise | Deutschland | |
2018 | La Casa Lobo | Arsenal-Institut | Cristóbal León, Joaquín Cociña | Chile | |
2017 | El mar la mar | Arsenal-Institut | Joshua Bonnetta, J.P.Sniadecki | USA | |
2016 | Akher ayam el madina (In the Last Days of the City) | Wolf Kino / Arsenal-Institut | Tamer El Said | Ägypten u.a. | |
2015 | Balikbayan #1 Memories of Overdevelopment Redux III | Arsenal-Institut | Kidlat Tahimik | Philippinen | |
2014 | Das Grosse Museum | Realfiction | Johannes Holzhausen | Österreich | |
2013 | Hélio Oiticica | Arsenal-Institut | Cesar Oiticica Filho | Brasilien | |
2012 | Tepenin Ardı (Beyond the Hill) | Arsenal-Institut | Emin Alper | Türkei / Griechenland | |
2011 | The Ballad of Genesis and Lady Jaye | Arsenal-Institut (Neue Pegasos) | Marie Losier | USA u.a. | |
2010 | La bocca del lupo | Arsenal-Institut | Pietro Marcello | Italien | |
2009 | Ai No Mukidashi | Love Exposure | Rapid Eye Movies | Sion Sono | Japan |
2008 | Tirador | – | Brillante Mendoza | Philippinen | |
2007 | Kurz davor ist es passiert | Kurz davor ist es passiert | Filmgalerie 451 | Anja Salomonowitz | Österreich |
2006 | 37 Uses for a Dead Sheep | 37 Arten ein Schaf zu nutzen | Piffl Medien | Ben Hopkins | Großbritannien |
2005 | Niu Pi Oxhide | Liu Jia Yin | China | ||
2004 | Dopo Mezzanotte | Die zweite Hälfte der Nacht | Kairos Filmverleih | Davide Ferrario | Italien |
2003 | Salt | Salt | Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek | Bradley Rust Gray | Island/USA |
2002 | Un Día de Suerte | Ein Glückstag | Kairos Filmverleih | Sandra Gugliotta | Argentinien |
2001 | Crónica de un desayuno | Chronik eines Frühstücks | Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek | Benjamin Cann | Mexiko |
2000 | I Earini synaxis ton agrofylakon | Das Frühlingstreffen der Feldhüter | Kairos Filmverleih | Dimos Avdeliodis | Griechenland |
1999 | Viehjud Levi | Viehjud Levi | Arsenal Filmverleih | Didi Danquart | Deutschland |
1998 | Kasaba | Die Kleinstadt | Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek | Nuri Bilge Ceylan | Türkei |
1997 | Nobody’s Business | Nobody’s Business | Ventura Film | Alan Berliner | USA |
1996 | Charms Zwischenfälle | Charms Zwischenfälle | Ventura Film | Michael Kreihsl | Österreich |
1995* | Madagascar | Madagascar | Fernando Pérez | Cuba | |
1995* | Complaints of a Dutiful Daughter | Klagen einer pflichtbewußten Tochter | Deborah Hoffman | USA | |
*1995 zwei Preisträger | |||||
1994 | Sátántangó | Sátántangó | Béla Tarr | Ungarn | |
1993 | Anlian taohua yuan | Das Land der Pfirsichblüte | Stan Lai | Taiwan | |
1992 | Swoon | Swoon | Tom Kalin | USA | |
1991 | All the Vermeers in New York | All‘ die Vermeers in New York | Jon Jost | USA | |
1990 | Untamagiru | Untamagiru | Go Takamine | Japan | |
1989 | Sama | Die Spur | Néjia Ben Mabrouk | Tunesien | |
1988 | Nagunenun gilesodo schizi annunda | Der Mann mit den drei Särgen | Lee Chang-Ho | Korea | |
1987 | Yuki yukite shingun | Vorwärts, Armee Gottes! | Kazuo Hara | Japan | |
1986 | Shoah | Shoah | Arsenal-Institut vorm. Freunde der Deutschen Kinemathek | Claude Lanzmann | Frankreich |